1976 wurde das Auktionshaus Hôtel Drouot – 124 Jahre nach seiner Eröffnung – abgerissen. Zahlreiche Umbauten hatten nicht ausgereicht, um den infrastrukturellen Erfordernissen des Kunst- und Antiquitätenhandels des 20. Jahrhunderts gerecht zu werden. Vier Jahre später öffnete der Nachfolgebau, das »Neue Drouot«, am gleichen Ort seine Pforten. Noch 1973 wurde ein Film im alten Gebäude gedreht, eine Hommage an das Hôtel Drouot als Erbe beziehungsweise Zeuge des Paris des 19. Jahrhunderts. Dieser Film trägt den Titel Nuits Rouges (Rote Nächte), in Deutschland als Der Mörder ohne Gesicht veröffentlicht, und ist ein an der Figur des Fantômas orientierter Krimi, der als Hauptfiguren unter anderem dem in Paris etwas verloren wirkenden, von Gert Fröbe gespielten Kommissar einen »Mörder ohne Gesicht« (gespielt von Jacques Champreux) gegenüberstellt. Im Film fungiert das mit Antiquitäten gefüllte Hôtel Drouot als das Gegenstück zur kybernetischen Schaltzentrale des Verbrechers. In mehreren Szenen wird das Hôtel Drouot mit seiner Infrastruktur, seiner Architektur und dank der darin stattfindenden Interaktionen mit seinen verschiedenen Räumen vorgestellt; es dient als Bühne für unterschiedliche Ereignisse, wie Vorbesichtigungen, Auktionen oder einen nächtlichen Einbruch mit anschließender Kampf- und Verfolgungsszene. Der Film zeigt das Hôtel Drouot als einen von Nostalgie und Antiquiertheit geprägten Ort; er wirkt wie ein Vorspiel des bevorstehenden Abrisses. Dieser letzte, filmische Blick auf den Bau verweist deutlich auf dessen Alter und seine Bezüge zum 19. Jahrhundert. Das vorliegende Buch erforscht die Gründung des Hôtel Drouot als ein Ereignis in der Kunstwelt und innerhalb des Kunstmarkts Mitte des 19. Jahrhunderts, geht also auf die im Film lokalisierte Verortung mit ihren historischen Bezügen ein; er sei damit durchaus als visuelles Begleitmaterial zur Lektüre empfohlen.
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts fanden in den rund 20 Auktionssälen des Hôtel Drouot jährlich Tausende verschiedener Versteigerungen statt, deren Objekte vom Sessel aus einer Haushaltsauflösung bis zum Gemälde in einer Kunstauktion reichten. Das Hôtel Drouot war ein monumentaler Ort, der in der städtischen Ökonomie von Paris fest verankert war; ein Auktionshaus, wie es in dieser Zeit kein anderes gab, sowohl was seine Größe als auch seine marktökonomische Macht betraf. 1852 eröffnet, war es neben der Börse, den Kaufhäusern und den Passagen ein Hauptbezugspunkt des ökonomischen Lebens im Zweiten Kaiserreich. In dieser turbulenten Zeit der gesellschaftlichen Transformationen bedeutete die Eröffnung eines so zentralen Gebäudes die Geburt einer neuen machtvollen Institution, die jahrzehntelang nicht nur den nationalen, sondern auch den internationalen Kunstmarkt beeinflussen sollte.
Die französischen Auktionatoren hatten seit 1801 ein rechtlich abgesichertes Monopol auf öffentliche Versteigerungen inne, welches erst im Jahr 2000 aufgelöst wurde. Die Gründung des Hôtel Drouot versprach nicht nur die Konzentration ihrer Versteigerungen an einem zentralen Ort – der neue, repräsentative Bau trug auch ihrem veränderten Selbstverständnis Rechnung. Im Verlauf der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten sie ihre Zuständigkeiten erfolgreich ausweiten können, wodurch auch ihre gesellschaftliche Bedeutung zunahm. Besonders deutlich wird das am Handel mit Kunstwerken: Nun fanden vermehrt spektakulär inszenierte Versteigerungen von Sammlungen und – bis dahin eher unüblich – von Werken lebender Künstler statt. Dieser sich zunehmend verändernde Auktionshandel mit Kunst erfuhr eine intensive und auch grenzübergreifende Rezeption in der Presse und auch in mehreren Büchern. Die große Bedeutung, die das Hôtel Drouot für die Kunstwelt besaß, gründet auch auf deren Veränderung, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts beispielsweise durch Expertenkultur und Ausstellungskonzepte greifbar wird. Durch das Monopol des Hôtel Drouot und dadurch, dass Paris zu dieser Zeit einen zentralen Bezugspunkt für die europäische Kunstwelt darstellte, lassen sich solche Veränderungen am Hôtel Drouot exemplarisch ablesen.
Die vorliegende Arbeit widmet sich einerseits der Geschichte des Auktionshauses Hôtel Drouot als Institution auf juristischer, organisatorischer, infrastruktureller beziehungsweise architektonischer Ebene, andererseits interessiert sie sich für den Kunstauktionsmarkt, wie er sich speziell an diesem Ort abgespielt hat, wie auch für die Art seiner Thematisierung in Text und Bild in den ersten Jahrzehnten nach der Gründung. Sie fragt nach Akteuren, Rahmenbedingungen, Transformationen und Konflikten, die seine Etablierung begleitet haben. Wie gestalteten sich Architektur, Infrastruktur, Ordnung und Nutzung dieser neuen Institution? Welche Reaktionen und Diskussionen rief sie hervor? In welchem Verhältnis stand sie zur damaligen Kunstwelt, und in welches Verhältnis setzte sich diese umgekehrt zu ihr?
Diese Fragen werden in drei Teilen erörtert: Am Anfang steht die Geschichte der Kunstauktionen und Auktionshäuser in Frankreich, die in der Errichtung des Hôtel Drouot gipfelte. Der Neubau wird sowohl hinsichtlich seiner Architektur und repräsentativen Funktion als auch seiner Infrastruktur und praktischen Nutzung vorgestellt. Der zweite Teil ist dem Kunstmarkt gewidmet, wie er sich im Hôtel Drouot abgespielt hat. Hier geht es um die neu auftauchende Figur des Händler-Experten sowie um die ebenfalls neue Bedeutung von Auktionen mit Kunstwerken von noch lebenden Künstlern. Im dritten Teil geht es, das Thema abrundend, um zeitgenössische Reaktionen auf den sich verändernden Markt und die sich ausdifferenzierenden Aktionsräume der Kunstwelt. In den Fokus rückt hier die Auktionshausliteratur, vor allem diejenige von Henri Rochefort (1830–1913) und Jules Champfleury (1820–1889), sowie die Bilder von Gustave Doré (1832–1883), Honoré Daumier (1808–1879) und anderen. Zwei historischen Debatten wird dabei besondere Aufmerksamkeit gewidmet: dem Diskurs um den Wert der Kunst und ihrer ›Finanzialisierung‹ sowie demjenigen um Betrug und Fälschung.
Der Kunstmarkt interessiert damit nicht nur im Hinblick auf die kommerziellen Transaktionen, die in ihm stattfanden, sondern er wird hier in einem breiteren Sinne als die ökonomische Basis der Kunstwelt verstanden – als das Terrain, das Bewertungen offensichtlich werden lässt. Das Hôtel Drouot hatte zwei wesentliche Funktionen: Es war die zentrale Institution für Auktionen nicht nur von Kunst, sondern von mobilen Gütern im weitesten Sinne und zudem ein wichtiger Bezugspunkt für Kunstkritik und -theorie. Hier geht es also nicht nur um die Geschichte des Kunstmarkts an sich, sondern auch um ökonomische Aspekte der Kunstgeschichte generell. Die historischen Diskussionen um das Auktionshaus, die beispielsweise in der Auktionshausliteratur stattfanden, waren in weiten Teilen auch Diskussionen über den ›Wert‹ der Kunst. Dieses Buch hat in diesem Sinne zwei klare Ziele: Zum einen soll die Funktion und Bedeutung des Hôtel Drouot als ein institutioneller und repräsentativer Ort für die Geschichte der Kunstauktion herausgestellt werden, zum anderen widmet sich diese Studie dem historischen Verständnis der Ökonomie von Kunst.